Mittwoch, 29. Juni 2022

Mein Erasmusaufenthalt in Liepaja, Lettland

Zwischen Schnee, Meer und sonnigen Tagen

Mein Erasmusaufenthalt in Liepaja, Lettland

Ein Jahr zuvor:

Ich wollte schon immer ins Ausland. Für einen Schüleraustausch, für ein Freiwilliges Jahr. Aber am Ende bin ich nie gegangen. Am Ende habe ich mich nie getraut meine Komfortzone zu verlassen, ich habe mich immer wieder von meinen Eltern, die natürlich besorgt sind, wenn ihre Tochter beschließt, allein ins Ausland zu gehen, zurückhalten lassen. Man möchte niemanden verletzten, die Mutter nicht zusätzlich ängstigen und keine Unruhe verursachen. Trotzdem war da immer dieser Wunsch. Der Wunsch die Erfahrung von etwas ganz Neuem zu machen. Anderes Land, neue Menschen, andere Sprache. Und dann habe ich mich einfach beworben. Ohne vorher alles mit meinen Eltern oder Freunden durchzusprechen, die mich womöglich wieder abgehalten hätten. Ich habe mir die Länder angeschaut, die mir mit meinem Studiengang Publizistik an der JGU Mainz zur Verfügung stehen. Schnell war klar: Frankreich und Spanien scheiden aus – ich erfülle ganz einfach nicht die Sprachanforderungen. Italien wäre die perfekte Möglichkeit mein Italienisch endlich aufzupolieren, aber gleichzeitig wäre mal ein anderes Land vielleicht spannender. Meine erste Wahl fiel auf Oslo, Norwegen. Das Land fasziniert mich schon seit langem (vielleicht hat da auch die Serie SKAM einen großen Einfluss drauf) und die Uni bot viele interessante Kurse an. Meine zweite Wahl: Klagenfurt, Österreich. Ja, vielleicht ist hier ein bisschen die Komfortzone wieder durchgekommen. Man spricht schließlich deutsch in Österreich, was die Kurse sicher vereinfacht hätte. Und als dritte Wahl? Gute Frage. Die dritte Wahl habe ich sehr spontan getroffen. Ein kleines Land, am liebsten in Nord- oder Osteuropa, einfach, um mal was ganz anderes zu haben. Lettland klingt doch gut. Ich habe zwar noch nie von der Stadt Liepaja gehört, aber das Argument, dass sie an der Ostsee liegt, war schon ganz schön überzeugend. Ich habe dann spontan also „Liepaja, Lettland“ als meinen dritten Wunschort angegeben. Ohne wirklich die Kurse zu checken, denn man hofft ja irgendwo, dass man in die Erst- oder Zweitwahl reinkommt. Aber wie das im Leben so ist, kommt unverhofft oft. Zack war ich dabei für ein Erasmusaufenthalt in Liepaja.

 

Die Vorbereitungen:

Da ich mich entschieden hatte meinen Erasmusaufenthalt ins Sommersemester zu legen (besseres Wetter und die Hoffnung, dass man weniger Corona-Einschränkungen hat) blieb es für eine

ganze Weile sehr ruhig um mein Erasmus. Hier mal ein Dokument, da mal ein paar besorgte Gespräche mit meinen Eltern. Um dem ganzen „ich bin dann mal weg“ eine Krone aufzusetzen habe ich mich Mitte 2021 entschieden von Mainz nach Hannover zu ziehen, um dort für drei Monate ein Praktikum zu absolvieren. Genau die drei Monate, bevor es nach Lettland gehen sollte. Es hieß also im September 2021: Umzug nach Hannover. Und dann im Februar 2022: Lettland ich komme. Aber bevor es so weit war, mussten dann doch nochmal mehr Vorbereitungen getroffen werden.

Ein Englisch Sprachtest stand an – den ich zu meiner eigenen Überraschung mit C1 Niveau abgeschlossen habe. Noch mehr Dokumente mussten ausgefüllt werden, die Versicherung wurde gefragt, wie das mit der Krankenversicherung im Ausland aussieht (es stellte sich heraus: unproblematisch, alles ist abgedeckt). Und dann die Fragen aller Fragen: 1. WIE komme ich eigentlich nach Lettland? und 2. WAS packe ich in meinen Koffer? Denn kurz vorher wurde mir erst klar – in Deutschland liegt mein Erasmussemester zwar im Sommer – in Lettland sind die Studienzeiten aber anders und ich komme im Winter-Frühling. Das heißt für Liepaja vor allem eins: Schnee, Wind und vielleicht in den letzten Monaten, wenn ich da bin, dann Sommer und Sonne. Gepackt werden muss also für jede Wettervariante. Gar nicht so einfach, wenn man sich dafür entscheidet, dass man „nur einen Rucksack“ mitnehmen möchte. Einen großen Rucksack. Mit einem Volumen von 50 Litern. Aber trotzdem sage ich gerne, dass ich nur einen Rucksack hatte.

 

Die Anreise: Hannover, Donnerstag, 03. Februar 2022.

Ich habe geplant am Samstag mit der Fähre von Travemünde nach Liepaja zu fahren. Ja – da gibt es eine Fähre. Ungefähr 26 Stunden dauert die Überfahrt und kostet um die 80 Euro. Was ich nicht geplant hatte: dass das Wetter verrücktspielt und die Abfahrt der Fähre sich immer weiter nach hinten verschiebt. Irgendwann war klar, mein Plan am Sonntag in Lettland zu sein ist nicht mehr einzuhalten. Am Montag sollte aber schon die Uni losgehen. Im Endeffekt habe ich meine Fähre umgebucht und bin dann Freitag gefahren. Freitag, dass hieß ein Tag weniger sich zu verabschieden. Ein Tag weniger, um zu packen. Ein Tag weniger, um praktisch meine ganze Wohnung in Hannover aufzulösen (oder zumindest mein WG-Zimmer). Irgendwie hat dann aber alles funktioniert und Tadaa: ich stand am Samstagabend in Liepaja, Lettland. Irgendwo am Ende der Stadt an einem Hafen, wo ich die einzige Person weit und breit zu sein schien. Wie komme ich jetzt in meine Unterkunft? Tja Spoiler: der Bus, den ich eigentlich nehmen wollte, kam schon mal nicht. Zum Glück kam aber ein anderer, der mich irgendwo im Stadtzentrum abgesetzt hat und Dank EU-Roaming und Google Maps habe ich meinen Weg in das Studentenwohnheim gefunden.

 

Das Studentenwohnheim:

Bei Studentenwohnheim denke ich an eine Wohnanlage, in der nur Studierende wohnen. Als ich mich in dem Wohnheim in Liepaja angemeldet habe wurde ich gefragt, ob ich ein Einzel- oder ein Doppelzimmer möchte. Ein Einzelzimmer bitte. Manchmal braucht man ja auch Raum für sich allein. Ein Einzelzimmer hatte ich genau eine Nacht lang. Und dann habe ich fünf Monate mit einer anderen Erasmusstudentin zusammengewohnt. So viel zum Einzelzimmer. Es stellte sich heraus: Das Studentenwohnheim ist ein Hostel, bei dem die Uni praktisch eine Etage hat, die sie für Studierende zur Verfügung stellt. Das heißt, hier begegnet einem eine bunte Mischung an Menschen. Die Nachteile: Man teilt sich Badezimmer und Küche mit gut dreißig Leuten. Definitiv eine Erfahrung. Die Vorteile: Wir waren ein Gang voller Erasmusstudierende. Türkei, Deutschland, Italien, Frankreich und Mexico treffen aufeinander. Und die Miete ist unschlagbar. Nicht mal 100€ im Monat für das geteilte Zimmer mit Kühlschrank, Bett und Schreibtisch. Mein neues Zuhause für die kommenden fünf Monate.

 

Erste Begegnungen:

Die erste Person, die ich traf, war ein junger Mann aus Lettland, der zufällig im gleichen Stockwerk wohnte wie ich. Er war derjenige, der mich mit einem Topf und einem, Teller versorgt – das wird nämlich nicht vom Hostel gestellt und darf sich jeder erstmal selbst kaufen. Als nächstes traf ich auf eine Handvoll Studierende aus der Türkei – und meine zukünftige Mitbewohnerin. Die Vier nahmen mich für die ersten zwei-drei Tage an die Hand. Das Schöne war: es gab schon eine Instagramgruppe, mit allen Leuten die so da waren, also hatte ich direkt eine Möglichkeit etwas zu unternehmen. Girls Night am ersten Sonntag in Liepaja uns viel zu viele Namen, die ich aber über die nächsten Monate lernen sollte. Zu meiner Überraschung war ich die einzige Person, die aus Deutschland kam. Vielleicht gab das den Anstoß, mich als erstes mit dem Mädchen aus Mexico anzufreunden – denn auch sie hatte niemanden aus ihrem Land hier und auch niemanden, mit dem sie Spanisch sprechen konnte. Die Grundlagen der ersten Freundschaft waren also gelegt und es sollten noch viele weitere folgen.


Die Universität:

Ich hatte es ja schon gesagt – meine Entscheidung nach Lettland zu gehen war eher zufällig und nicht meine erste Wahl. Es stellte sich also heraus, dass es praktisch keine Kurse für mich gab, die zu irgendwas von meinem Studiengang Publizistik gepasst hätten. Und die wenigen, die vielleicht gepasst hätten, fanden in diesem Semester nicht statt. So gestalteten sich die ersten zwei Wochen vor allem aus einem chaotischen hin und her mit meiner Uni und der der Uni in Liepaja, um eine Lösung zu finden, wie ich vielleicht wenigstens ein paar ECTs bekommen könnte. Es wurde eine Lösung gefunden, oder zumindest eine Teillösung. Ich sollte an beiden Unis gleichzeitig studieren. Wie gut, dass wir Onlinelehre haben.

 

Liepaja:

Die Stadt hat laut Wikipedia eine Bevölkerungsanzahl von circa 68.000 Menschen. Zum Vergleich: die Uni Mainz hat laut Wikipedia ungefähr 40.000 Studierende. Ich präsentiere: Liepaja, die drittgrößte Stadt in Lettland. Aber trotz der anfänglichen Skepsis habe ich die Stadt lieben gelernt und es gab viel mehr zu erleben, als man im ersten Augenblick sehen konnte. Strand, Bars, lange Spaziergänge und ja – es gibt auch Clubs, in denen man das Klischee eines Studentenlebens ausleben kann. Und nicht zu vergessen: das Kino, das praktischerweise alle Filme in Originalton (also meistens Englisch) zeigt. In Liepaja habe ich das erste Mal Schnee am Strand erlebt und bin um drei Uhr Nachts aufgestanden, um Polarlichter zu sehen (Spoiler: es gab keine und wir haben zwei Stunden lang am Strang gefroren). Eine Stadt, die für mich voller kleiner Wunder und Überraschungen gesteckt hat.

Außerdem gut – ein Bus nach Riga, für ungefähr 9€ und dann ist man innerhalb von vier Stunden in Lettlands Hauptstadt. Und von hier aus kommt man (fast) überall hin. Helsinki liegt praktisch nur einen Katzensprung entfernt, Tallin ist um die Ecke und der Flughafen hat sowieso Flüge nach überall in Europa.

 

Die Zeit fliegt:

Am Anfang dachte ich: Wow ein halbes Jahr. Das ist ganz schön lange, ich werde bestimmt meine Freunde und Familie wahnsinnig vermissen. Und lasst mich nicht lügen – ja ich habe sie vermisst. Aber die Erasmusfamilie, die ich gefunden habe, war ganz schön gut, um mich von der Vermissung abzulenken. Man wächst als Gruppe zusammen. Innerhalb kürzester Zeit hatte ich das Gefühl diese Leute schon viel länger als nur ein paar Wochen zu kennen. Und wir waren füreinander da. Als eine Freundin von mir aus Deutschland gestorben ist, war (nach einem langen Telefonat mit meiner Mutter) mein erster Schritt mich mit meinen Freunden im Wohnheim zusammen zu setzen, ein bisschen zu weinen, ein bisschen zu essen und sich einfach ein bisschen geborgen zu fühlen. Und aus sechs Monaten wurden ganz schnell nur noch zwei Monate. In einer Woche Osterferien haben wir zusammen beschlossen, mit einer kleinen Gruppe nach Wien, Budapest und Bratislava zu reisen. Und als ich einfach mal aus der Hostel-Atmosphäre ausbrechen musste und für sechs Tage nach Schottland verschwunden bin, habe ich schon nach zwei Tagen die Leute in Liepaja vermisst.

Und dann sind da plötzlich nur noch zwei Wochen. Nur noch fünf Tage. Noch eine letzte Nacht. Eine Abschiedsparty. Viele Tränen, viel Lachen. Viel Freude über das was wir gemeinsam erlebt habe und auch der Blick in die Zukunft, in der wir uns natürlich alle wiedersehen wollen. Und um die
gemeinsame Zeit noch ein bisschen zu verlängern.

Drei Wochen nach dem Ende in Liepaja – ein Wiedersehen in kleiner Runde in Frankreich. Denn Erasmus bietet nicht nur die Möglichkeit eine andere Uni und ein anderes Land zu entdecken. Erasmus bietet vor allem die Möglichkeit viele neue Leute aus verschiedenen Ländern kennen zu lernen. Viele Freunde in der ganzen Welt zu finden. Und viele Länder, in denen man sich wieder treffen kann.

 

Fazit:

Sechs – oder eher fünf Monate sind keine lange Zeit, wenn man sie mit den richtigen Leuten verbringt. Für mich wir diese Entscheidung, endlich mal von zu Hause weg zu gehen, vermutlich immer eine der besten Entscheidungen gewesen sein, die ich in meinem Studium treffen konnte. Dieses Erasmus hat mir viel mehr darüber beigebracht wer ich bin, wie ich sein kann und wer ich eigentlich werden möchte. Ich habe großartige Menschen kennen gelernt, tolle Momente erlebt und wertvolle Erfahrungen sammeln können. Und ich kann nur jedem empfehlen, der mit dem Gedanken spiel einen Aufenthalt im Ausland zu machen: Go for it. Es wird dein Leben bereichern. Und es wird dir immer in Erinnerung bleiben.

2 Kommentare:

  1. Wow, das hört sich ja mal echt unfassbar gut an - ins Ausland möchte ich auch unbedingt :)

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  2. Das ist ja ein faszinierender Bericht, lieben Dank dafür;)

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